Freitag, 22. April 2005
Ferndiagnosen
Die Blogosphäre ist im Grunde die Fortsetzung der Selbsthilfegruppe mit anderen Mitteln. Ein Stuhlkreis, bei dem sich jeder zu Wort melden kann: "Ja, hallo erst mal, ich bin der Mark, ne, und mein Problem ist, dass ich alles so dunkel bis schwarz sehe." "Mein Name ist Yvonne, und ich leide arg darunter, dass alle mich nur als Psycho-Tante wahrnehmen." "Hi, ich bin die Eva, und immer wenn ich meine Heulkrämpfe kriege, greife ich zwanghaft zu hochprozentigen Gegenmitteln, die alles nur noch schlimmer machen."

So läuft das hier, wir kennen uns nur mit unseren Vornamen Nicknames, wie das in Selbsthilfegruppen üblich ist. Oft melden sich verständnisvolle Gruppenmitglieder mit konstruktiven und aufmunternden Beiträgen zu Wort. "Hey Du, diesen Zustand kenn ich gut, mir haben die Cipramil forte und ein Wochenendseminar mit Bäumeumarmen im Spessart sehr geholfen." "Echt? Wow, danke für den Hinweis. Sollte ich vielleicht auch mal probieren."

Natürlich keimt da und dort mal der Verdacht auf, dass manche Teilnehmer ihre Macken etwas arg exhibitionistisch zur Schau stellen. Oder dass andere, die so tun, als sei bei ihnen alles bestens bestellt im Leben, in Wirklichkeit auch ihr Päckchen zu tragen haben, das aber nicht jedem auf die Nase binden wollen. Ist auch ok, denn es gilt der Grundsatz, alles kann, nichts muss.

Der Fall Anne-Marie sprengt allerdings den üblichen Rahmen der erprobten Stuhlrunden und Gruppengespräche. Und so schlagen die Wellen hoch in der Selbsthilfegruppe Klein-Bloggersdorf. Herr Sebas, der die Marien-Legenden publikumswirksam Stück für Stück demontiert, bringt sich in Verdacht, dies nur aus gekränkter Eitelkeit, sexueller Frustration oder auch Klickzahlen-Geilheit zu tun.

Das sind Hypothesen, die ich per Ferndiagnose nicht ausschließen kann. Was ich aber aus meiner Selbsthilfegruppen- und Suchtthema-Sozialisation weiß, ist, dass es einen therapeuthisch wirksamen Effekt haben, kann, wenn das Lügen- und Verdrängungskonstrukt zerstört wird, das der Suchtkranke um sich selbst herum aufgebaut hat. Manchem Alkoholiker etwa eröffnet erst die klare Einsicht und das offene Eingeständnis, Hilfe zu benötigen, Wege aus der Sucht. Inwieweit diese Analogie übertragbar ist auf die real-life-Kollisionen der Kunstfigur Marie, schwer zu sagen. Dass sie unter dem Druck der Enthüllungen immerhin selber eine Erklärung dazu abgegeben hat, werte ich als positives Signal.

Und was den Kollegen Sebas angeht: Es ist nicht ohne Risiko, den Weißen Anzug gegen den weißen Kittel zu vertauschen, ohne sich dem Generalverdacht auszusetzen, von weniger hehren Motiven getrieben zu sein. Aber ich hab für mich in dieser Runde auch wieder was gelernt: Ich sollte nicht immer alles so schwarz sehen.

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