Dienstag, 10. September 2013
Reisenotizen aus einer speziellen Realität
Über Monis Buchprojekt hatte ich hier ja schon im Vorfeld berichtet. Als dann das fertige Werk eintraf, hatte ich nicht sofort die nötige Muße, und da "Tomorrow can wait" in gewisser Weise auch ein Reisebuch ist, habe ich mir die Lektüre eben für den Urlaub aufgespart.

Der Untertitel "Exploring Europe With Our Autistic Child" stapelt streng genommen etwas tief, denn eingebettet in die Urlaubsbeschreibungen gewährt Moni auch vielfältige Einblicke in den Alltag mit einem autistischen Kind, die selbst für den regelmäßigen Leser ihres Blogs nie langweilig oder redundant werden. Darüber hinaus nutzt Moni die Gelegenheit, viel von ihrem nachgerade enzyklopädischen Wissen über Autismus allgemein und über die gesellschaftliche Wahrnehmung dieses Phänomens weiterzugeben. Auch da kommt keine Langeweile auf, wenngleich die geballte Wissensvermittlung an ein paar Stellen im Buch den Erzählfluss etwas ins Stocken geraten lässt. Den allgemeineren Teil komplett in einen Anhang auszulagern, wäre dem Thema freilich auch nicht gerecht geworden, vielleicht wäre es die elegantere Lösung gewesen, ein paar der spezielleren Fachdebatten samt ihrer Historie nur anzureißen und in Fußnoten zu vertiefen.

Aber im Großen und Ganzen trägt das erzählerische Gerüst der Reiseberichte auch den allgemeineren Teil ganz gut. Und speziell gegen Ende läuft Moni nochmal zur Hochform auf, als sie den geradezu inflationären Gebrauch der Zuschreibung "autistisch" in den letzten Jahren aufgreift und darlegt, wie sehr diese doch recht spezielle Diagnose mit all ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Symptomen zu einer Art Leitmetapher für unsere spätkapitalistische und digitalisierte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts werden konnte. Diese Metapher sagt viel über uns und unsere gesellschaftlichen Ängste und Sorgen aus, aber so gut wie nichts darüber, wie Menschen wie Monis Sohn John ticken und die Welt erleben. Ich selbst habe noch vor ein paar Wochen bei einem Radausflug einen Mitfahrer damit aufgezogen, er fahre ziemlich autistisch vor sich hin. Das würde ich mir heute, nachdem ich "Tomorrow can wait" gelesen habe, wohl verkneifen.

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Ich habe es bisher leider nur geschafft, dort ein wenig querzulesen. Das Buch liegt hier noch auf dem großen, großen Stapel. Das Thema Reisen aber mit speziellen Anforderungen gerade sehr spannend und mag Monis unaufgeregte Art des Alltagsberichtens. Und ja, diese Vokabel und ihre laxe Verwendung für dieses und jenes gehört wirklich hinterfragt.

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Der Titel verhindert ja auch ein bisschen ein schlechtes Gewissen, die Lektüre erst mal aufzuschieben. ;-)

Aber es lohnt dann auf alle Fälle, weil das Buch manches, was man ansatzweise schon aus dem Blog kennt (und schätzt) nochmal in einen umfassenderen Kontext einbettet.

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danke für den wertvollen Hinweis

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Immer gerne. Und wo wir gerade über Blogger_Innen-Bücher reden, darf ich an dieser Stelle auch schon kundtun, was als nächstes auf meiner Leseliste steht.

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Danke!

Ich hatte tatsächlich mal an Fußnoten gedacht, aber das funktionierte nicht gut. Dafür habe ich dann den Theorieanteil gekürzt - hätte vielleicht noch kürzer gekonnt...

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Wie gesagt, im Großen und Ganzen fand ich die Mischung stimmig. Dass Du in den ganzen Jahren der Beschäftigung mit dem Thema eine Menge Wissen angesammelt hast, liegt auch auf der Hand. Es waren nur ein paar wenige Stellen, an denen es nach meinem Dafürhalten ins Dozieren driftete, aber letztlich hast Du die Kurve doch immer wieder gut gekriegt.

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....ich möchte an die situation letzten dezember erinnern, als sich sogar s.p.o.n dazu verstieg (per ferndiagnose) zu behaupten, daß alle diktatoren, massenmörder und amokläufer autisten, zumindest asperger sein/waren.
und fast alle medien benutzten dies auch als erklärung....
(als ich mich jemanden meiner familie gegenüber outete, zuckte er vor mir zurück und ist seitdem auf distanz. ein springerpresse-leser; die war besonders schlimm)
es ist und es bleibt ein mode-begriff; zumeist im beschreiben von negativem, zumindest befremdlichem verhalten verwendet.
ja, ich hatte ein sch**ssleben als asperger, aber nur so lange ich nicht wußte, daß ich einer bin.
seither kann ich die umwelt besser ertragen, begegne ihr gelassener, mitfühlend(!) und bin nachsichtig.

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Ja, ich erinnere mich, ebenso an einen gepfefferten Rant von Jens Scholz zum Thema: Nichts neues, Autismus is the new Killerspiele is the new Death Metal is the new Gammler is the new Swingkids. Prägnanter hätte man das mit dem Modebegriff zur Beschreibung von befremdlichem oder negativem Verhalten kaum auf den Punkt bringen können.

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