Montag, 22. November 2010
Geht es wieder gegen "geistiges Grenzgängertum"?
Über die Frage, ob das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auch die Hausfassade schützt oder nicht, kann man durchaus kontrovers diskutieren. Und von dieser Möglichkeit wurde (auch hier in der Dunkelkammer) so ausgiebig Gebrauch gemacht, dass wir die jeweiligen Argumente nun wirklich als bekannt voraussetzen dürfen. Aber allmählich gewinnt die Kontroverse doch eine neue, nunja, Qualität: In Essen wurden Presseberichten zufolge jetzt Häuserfronten, die bei Googles Streetview-Dienst verpixelt erscheinen, mit rohen Eiern beworfen. Parallel dazu blasen sogenannte Aktivisten für die Entpixelungsinitiative "Finde das Pixel" zur Bilderjagd nach verpixelten Hausfronten.

Schöne, neue Welt, die solchen Tatendrang beflügelt. Bin ich der einzige, den dieser Aktionismus an die FDJ-Aktion "Blitz kontra NATO-Sender" ("Aktion Ochsenkopf") erinnert? Kurz nach dem Mauerbau zogen in der DDR Horden von Pionierpimpfen und Komsomolzen von Häuserblock zu Häuserblock und inspizierten, ob die Bürger ihre Antennen auch brav auf das Ostfernsehen ausgerichtet hatten. Wo die Antennen auf die Programme der Imperialisten (Sender Ochsenkopf) ausgerichtet waren, gab es entweder sinnige Sprüche ("Der Ochsenkopf auf dem Dach, der Klassenfeind im Schlafgemach") an die Hauswand, oder die Jungstalinisten stiegen gleich aufs Hausdach und verdrehten oder demolierten die Empfangsanlagen eigenhändig. Die FDJ-Aktion richtete sich explizit "gegen Ochsenköpfe und geistiges Grenzgängertum".

Und jetzt geht es mit dem gleichen kulturrevolutionären Furor gegen analoge Spießer, die sich der nett gemeinten Transparenz-Diktatur von Googles Gnaden nicht ohne weiteres unterordnen wollen. Wobei die Gründe für das Verpixeln wie gesagt zum Teil auch irrational sein mögen und auf Fehlwahrnehmungen beruhen. Einen hinreichenden Grund, die Leute zu ihrem Glück und Gugels Gassenglotze oder anderen Bildersammlungen zu zwingen, liefert das meines Erachtens aber nicht. Und für Eierwürfe und dergleichen schon gar nicht. Auf eine digitale Öffentlichkeit, die solche Argumente nötig hat, ist mir mit Verlaub gesagt geschissen. Oder wie es George Bush senior mal so schön ausdrückte: read my hips!

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Ich finde, dass viel zu viel Wind um das alles gemacht wird. Es verlangt ja auch niemand, dass Beispielsweise Postkartenansichten unkenntlich gemacht werden, weil es jemandes Privatsphäre verletzt.

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Auch wenn der Vergleich hinkt,
würde ich Ihnen insoweit beipflichten, dass man das Thema nicht sooo hoch hängen müsste. Mein persönliches Wohlbefinden bleibt von der Sichtbarkeit oder Verpixelung der hiesigen Häuserfront weitestgehend unbeeinflusst.

Aber der Zwang, der von gewissen Leuten ausgeübt wird, stört mich schon nicht zu knapp, ebenso der fehlende Wille, die Leute nach ihrer Facon selig werden zu lassen.

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Dass man dieses Thema hoch hängen muss, sieht man genau daran, dass jetzt damit argumentiert wird, dass sich schon bei Maps oder den anderen Strassen-Diensten keiner beschwert hätte. Irgendwo muss man die Salamitaktik ja mal unterbrechen. Gibt es einen besseren Zeitpunkt als jetzt?

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Einen besserer Zeitpunkt
kommt wahrscheinlich nicht mehr, aber im Prinzip hätte Earth View den geeigneteren Aufhänger geliefert. Das vergleichweise harmlose Streetview macht es halt leicht, die Angst davor als irrational und unverhältnismäßig abzutun.

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Oh, das sehe ich nicht so. Qualitativ ist da m.E. ein Riesenunterschied. Earth guckt zwar in meinen Garten, kann aber Äpfel nicht von Birnen unterscheiden. Bei SV kann ich erkennen, welcher Hungerleider in Bielefeld zwei Kästen Oettinger nach Hause bringt.

Die schiere Menge an deutlich erkennbaren Menschen zeigt auch, dass die ganzen Automatismen zur Anonymisierung eine Farce sind.

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Gut, so gesehen...
Den Aspekt hatte ich nicht so prominent auf dem Schirm. Aber es stimmt natürlich, dass da einiges im Argen liegt. Da könnte Google durchaus nochmal nachbessern, ohne dass die Funktionalität des Dienstes groß drunter leiden müsste.

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Ich fürchte, das nimmt man in Kauf, bis sich jemand beschwert.

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ich finde das vor allen dingen auf der zeitachse so unglaublich kurzsichtig argumentiert. öfter konnte man lesen, dass die gepixelten bilder jetzt "für immer" verpixelt seien usw. - als wenn das die ersten und somit letzten straßenabfilmungen der welt seien.
was firmen wie g00gle in fünf oder gar zehn jahren vorhaben, steht doch für die meisten von uns noch völlig in den sternen (wenn ich da nur an ms' seadrag0n denke, steht uns bei bing da auch noch einiges bevor).

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@vert: Richtig,
völlig naiv, anzunehmen, dass da nicht in paar Jahren die nächste Aufnahmerunde kommt. Google wird ja selber auch Interesse daran haben, wenn das Ding mal etabliert ist, nicht ewig mit uralten Ansichten zu arbeiten. Ich denke, im Moment arbeitet man bewusst mit sehr inaktuellem Material, um nicht noch zusätzliche Ängste in Sachen Live-Überwachung zu schüren.

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Bei Googles Street View hoffe ich inständig dass alle genannten Befürchtungen der Gegner dieses Dienstes vollkommen gegenstandslos sind.

Weil, wenn nicht …

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@der_papa:
Ehrlich gesagt habe ich mir gar nicht alle apokalyptischen Szenarien zu Gemüte geführt, die in dem Zusammenhang kursieren. Ein bisschen potenzielle Panik muss ich ja noch für die Terrrorgefahr, die Ausläufer der Finanzkrise und den Klimawandel bereit halten. ;-) Um die Sachlage (aus berufsparanoider Sicht) noch zusätzlich zu verkomplizieren, gebe ich zu bedenken, dass man der Datenkrake Google mit einem Verpixelungsantrag auch noch die Kombination aus Name und ladungsfähiger Adresse frei Haus liefern würde. Und das ist weit mehr (und in Verbindung mit weiteren Merkmalen lukrativer vermarktbar) als der Blick auf meine Hausfassade, das Verwalten meines Gmail-Kontos und die ganzen von der Google-Toolbar ausspionierten Info-Bits aus meinem Browser. Tappt man also bei der vermeintlichen Vermeidung eines derzeit überschaubaren Privacy-Problems wie GSV nicht in eine viel größere Datengenerierungsfalle? ;)

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Das Thema hatten wir schon mal, glaube ich. Eine echte Zwickmühle und eigentlich eine Riesensauerei.

Mich persönlich würe ja interessieren, ob die umgekehrte Methode (also ein aktives Opt-In) mit einem anfangs komplett verpixelten Deutschland je eine Chance hätte. Würden die ganzen Hurraschreier dann einen Antrag stellen, um einzeln aus dem Pixelbrei herauszustechen?

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Opt-in würde nur die sichtbar machen, die aktiv werden. Die große Masse ist aber inaktiv in der Warteschleife vor dem Fernseher geparkt.

Meine Oma kennt Google nicht. Ihr Hause würde dauerhaft unsichtbar bleiben, egal ob sie was dagegen hätte oder nicht.

Es muss einen Grund geben warum weltweit so viel Geld in die Hand genommen wird um massiv Daten zu sammeln, und warum dabei die Rücksicht vor privaten Daten immer mehr zurück geht.

Die Frage ist möglicherweise heikel, wenn nicht gar panikfördernd bei den einfachen Geistern, aber beileibe nicht uninteressant: Kennen wir den Grund?

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"...Ein bisschen potenzielle Panik muss ich ja noch für die Terrrorgefahr, die Ausläufer der Finanzkrise und den Klimawandel bereit halten. ;-) ..."

Die eigentliche Gefahr lauert ja in der weltweiten Hungersnot.

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@conma:
Diese eigentliche Gefahr könnte schlagartig gegenstandslos werden, wenn ein genügend großer Asteroid auf der Erde einschlägt (nur mal so als Beispiel). Von daher erscheinen mir Aussagen wie "die eigentliche Gefahr liegt im..." durch die Bank hochspekulativ. Meine endliche Lebenszeit reicht auch nicht aus, um mir über alle potenziellen Katastrophen Sorgen zu machen. Eigentlich hätte man ja schon die 80er Jahre nicht überleben dürfen vor lauter Waldsterben, Atomkriegsbedrohung und radioaktiver Verstrahlung.

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@der_papa:
Auf der Suche nach Antworten begibt man sich unweigerlich auf das Feld der Kreml-Astrologie. Fakt ist: Mehr als 95 Prozent der Erlöse von Google kommen aus Werbung, und ich denke nicht, dass ich dem Laden Unrecht tue, wenn ich davon ausgehe, dass mit der Kombination aus noch genaueren Konsumentenprofilen und Geodaten noch viel mehr Schotter zu machen ist als bisher.

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Deiner Meinung schließe ich mich an. Mehr Geld steckt da schwerlich drin. Google versucht wahrscheinlich einfach nur für Besucher attraktiv zu bleiben und bietet einen hilfreichen Dienst nach dem anderen an.

Wie aber in dem anderen hier schon genannten Thread schon mal erwähnt ändern sich die Umstände zuweilen. Und dort ebenfalls schon mal erwähnt: ein Blockwart der 30er und 40er-Jahre des vorigen Jahrhundert hätte mit den Datenbeständen die das Internet heute kostenlos liefert einen deutlich „besseren“ Job abliefern können. Das diese Befürchtung gegenstandslos bleiben, darauf bezieht sich meine oben genannte Hoffnung …

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... Eigentlich hätte man ja schon die 80er Jahre nicht überleben dürfen vor lauter Waldsterben, Atomkriegsbedrohung und radioaktiver Verstrahlung. ...

... und Fahrradfahren ohne Helm ...

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Differenzieren
Wie schon Wau Holland vom CCC wusste: Persönliche Daten schützen, öffentliche Daten nützen.

Die Abbildung des öffentlichen Raums ist ein öffentliches Datum. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

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Dann ist ja gut.

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@jens best:
Das enthebt einen nicht der Güterabwägung, um welchen Preis man das jeweils durchsetzen will. Um mal vom Allgemeinen ins Konkrete zu gehen: Ich habe das Foto der Pizzeria "Don Alfonso" damals nicht geschossen, obwohl ich formal im Recht dazu war. Andere mögen das für sich anders entscheiden. Aber ein Sachzwang, irgendwelchen aufgeputschten Dotcomsomolzen auch noch Beifall zu klatschen und "Gebt's ihnen" zu rufen, wenn sie den Verpixlern auf die Dächer steigen, erwächst mir daraus nicht.

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ich muß wohl zugeben, dass ich nicht mit verschämt geschlossenen Augen oder höchstens gesenkten Blickes durch die Gegend laufe

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Äh, ja - und?
Ich habe in der öffentlichen Sauna schon auch mal meinen kleinen Freund sehen lassen, aber das hat (trotz des aberwitzigen Vergleichs von Jeff Jarvis) genauso wenig mit dem Thema hier zu tun wie in-der-Landschaft-rumgucken.

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schmerles, nicht mit gesenktem Blick durch die Gegend zu laufen ist etwas anderes als eine Leiter unter dem Arm zu haben und drauf zu steigen, um zu sehen, wie es bei mir hinter der 2,50 Meter hohen Hecke aussieht. Ebenerdig ist nämlich auch mit erhobenem Haupt nicht viel zu sehen.

"Öffentlich" ist immer vom normalen Beobachterstandort aus zu definieren. Die Nutzung von Hilfsmitteln, um zwecks Photographie Sichthindernisse zu überwinden, zählt dazu nicht. Mal ganz abgesehen von der Armseligkeit des eigenen Daseins desjenigen, der sich so etwas zum Lebensinhalt macht.

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wie peinlich, zu glauben, streetview sei auf diese weise wichtig. und dann auch noch ungläubige gegen deren willen mit der eigenen pubertären wahrheit zu beglücken. so viel hirnloser eifer war schon lange nicht mehr.
dabei gibt es andernorts kluge reflexionen über die menschlich indifferente perspektive. (übrigens war dies wohl der moment, als einer unserer vordenker bei seiner reise in eine bekannte stadt seinen geistesblitz zu streetview hatte.)

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@leteil:
Danke für den anregenden Lesestoff. Werde ich mir gleich mal zu Gemüte führen...

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In theory, we are all equally subject to being photographed, but the Street View collections often reveal it is the poor and the marginalized who fall within the purview of the Google camera gaze.

Danke für den Link!

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der kulturelle wandel erklärt diese neueste "rebellion" vielleicht.

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Argh,
lädt sich grad alles zu Tode, habe hier nur schwaches Netz. Das muss warten, bis ich wieder zuhause bin. Aber tendenziell geht das schon in die Richtung, die ich neulich auch meinte mit meiner Prognose, dass der Kontrollverlust im Zweifelsfall die Schwächeren in der Gesellschaft noch mehr schwächt und weiter ausgrenzt. Aber das muss die Vorturner der Daseinsdigitalität, die versuchen, ihren Striptease möglichst gewinnbringend zu vermarkten, ja nicht bekümmern.

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