Freitag, 1. Juli 2005
Vertrauens- und Sonntagsfragen
Der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz hat vorhin ein großes Wort gesprochen: "Wir leben in einer Demokratie, nicht in einer Demoskopie." Wobei die Grenzen zunehmend verwischen, denn der permanente Blick auf die Wasserstandmeldungen des Wählerwillens gehört ja längst zum politischen Tagesgeschäft. Für einen Politiker oder auch anderen politisch interessierten Menschen wäre es vielleicht mal ganz lehrreich, im Callcenter live dabeizusein, wenn die aktuellen Kurswerte von Parteien, Fraktionen und Spitzenpolitikern aus repräsentativen Zufallsstichproben per Telefon erfragt werden. Ich weiß, wovon ich rede, denn während meines Politik-Studiums in den 80er Jahren habe ich bei der Forschungsgruppe Wahlen Politbarometer und Wahlumfragen telefoniert. Und ich muss sagen, das massenhafte Interviewen von wahlberechtigten Mitbürgern hat mir mehr Illusionen geraubt als 30 Jahre "Spiegel"-Lektüre. Ich erinnere mich speziell an die 1987er Landtagswahl in Schleswig-Holstein (Barschel und so...). Als Einstiegsfrage hatten wir im Skript: "Was sind aus Ihrer Sicht die drei gravierendsten Probleme in Ihrem Bundesland?" Irgendwann hatte ich jemanden am Rohr, der mir allen Ernstes in den Ohrstöpsel blökte: "Dass zuwenich für die alten Frontkämpfer getan wird in diesem Land, DAS ist das Hauptproblem." Als Sozialforscher ist man ja der Neutralität verpflichtet, und daher fragte ich erst mal skriptgemäß weiter "und das zweite Problem?" Es gebe kein zweites Problem, blaffte der alte Sack, würde mehr für die alten Frontkämpfer getan, stünde alles zum Besten hier im Norden. Ich konnte dann doch nicht ganz an mich halten und gab dem Herrn dezent zu verstehen, dass sich das Problem der alten Frontkämpfer irgendwann biologisch erledigen würde. Daraufhin betrachtete der Interviewte das Gespräch vorzeitig als beendet, und so habe ich nie erfahren, was er gewählt hätte, wenn am nächsten Sonntag Landtagswahl gewesen wäre. Aber wenn ich ehrlich sein soll, wollte ich das schon gar nicht mehr so genau wissen. Denn am kommenden Sonntag war ja gar keine Landtagswahl...

... comment

 
Au weia, watt'n Depp. Vor einigen Jahren habe ich mal für Infratel (Infratest dimap) gearbeitet. Aufgehört habe ich 1998, als rot-grün die Wahl gewonnen hatten. Die ersten Hochrechnung habe u.a. ich erstellt/entgegengenommen. War sehr spannend und ein toller Abend.
Die Sonntagsfragen waren mir die liebsten, obwohl ich das heute sicher anders beurteilen würde. Am schärfsten war ein Erlebnis, bei dem ich mich auch nicht mehr zurückhalten konnte. Bei diesen Erhebungen werden ja auch immer die Politiker benotet. So auch an diesem besagten Abend. Ich hatte den Xten völlig Ahnungslosen an der Strippe (oder besser auf dem Headset) und man merkt ja recht schnell, ob jemand weiss, wer der besagte Politiker ist, oder eben nicht. Der Befragte hatte keinen Schimmer.... antwortete jedoch nicht wahrheitsgemäß mit "kenn ich nicht", sondern vergab fleissig Schulnoten. Sehr zügig. Irgendwie hat es mir an dem Tag genügt und ich habe meinen eigenen Namen der Liste der Politiker hinzugefügt.
Ich habe eine "4" geerntet.

Das dazu.

Ja, ich schäme mich im nachhinein für diese Frechheit.

... link  

 
Schwieriger Grenzfall.
Man weiß genau, der Typ redet Blech. Man kann dem auch nicht sagen, hey, Sie ham ja wohl keinen Peil, sonst bricht er das Interview ab. Da kann man nur hoffen, dass damit in ner Stichprobe von Tausendirgendwas nicht soo viel verrutscht. Ist aber lustig, dass Sie das sagen, denn ich hab diese erfragten Einzelbewertungen von Politikern nie für sonderlich valide gehalten. Alles in allem hat mir die Arbeit aber Spaß gemacht. Zumal es eine wertvolle praktische Ergänzung zum theorielastigen Politikstudium war...

... link  

 
Jupp, ich hab auch u.a. Politik studiert - und besser noch: Soziologie ;-)

... link  

 
Oh, Soziologen
sind ja ein ganz besonderes Völkchen. Ich hab mich immer gefragt, wie das ist, die Welt durch ne Soziologenbrille zu sehen, aber irgendwie war mir der Gegenstand dieses Fachs zu diffus. Da schien mir das Politische doch handfester und fassbarer, und meine philologischen Neigungen lebte ich in Germanistik und Anglistik aus. Irgendwann kurz nach den Zwischenprüfungen dämmerte mir indes, dass ich nicht dauerhaft dafür geschaffen bin, einfache Sachverhalte kompliziert auszudrücken. Zielten meine journalistischen Gehversuche doch eher in die gegenteilige Richtung, nämlich komplizierte Sachverhalte möglichst einfach und unkompliziert zu beschreiben. Und so kehrte ich der alma mater ohne Abschluss den Rücken...

... link  


... comment