Montag, 4. Juli 2011
"Transparenz ist das Mantra der Ignoranten."

Lord John Eatwell, Finanzmarkt-Forscher und Präsident des Queen's College in Cambridge in der Juli-Ausgabe des Wirtschaftsmagazins "brand eins".

Überhaupt wieder mal eine sehr lesenswerte Ausgabe, nicht zuletzt das Schwerpunktthema Transparenz eröffnet manchen neuen Blickwinkel.

Die Forderung nach mehr Transparenz klingt ja immer gut. Nun lerne ich, dass nicht unbedingt fehlende Transparenz die Problemkaskade auf den Finanzmärkten ausgelöst hat, sondern vielmehr Informationsexzess. Die Informationen über die Risiken bestimmter hochkomplexer Derivate wurden nicht verschwiegen, sie steckten nur in 500-seitigen Beipackzetteln, die kein Mensch verstand. Aber weil man an das systemische Problem de Risiko-Managements nicht herankommt oder -will, beschränkt sich die Politik eben auf die wohlfeile Forderung nach mehr Transparenz.

Und das erinnert mich ein wenig an endlose Debatten in der Werbebranche über Usancen beim Einkauf von Werbezeiten, die wir in der einschlägigen Fachpresse auch gerne gecovert haben. Da riefen die Markenartikler auch immer nach "mehr Transparenz!", zogen aber sowohl bei den dazwischengeschalteten Agenturen als auch direkt bei den Werbeflächenanbietern die Rabattschrauben bis über die Schmerzgrenze hinaus an in der Hoffnung, ein oder zwei Prozente billiger eingekauft zu haben als die direkte Konkurrenz.

Nun hatte sich irgendwann ein prominenter Werbezeitenverkäufer zu der sinngemäßen Aussage hinreißen lassen, den Kunden ginge die lautstark geforderte Transparenz doch am allerwertesten vorbei, solange die relative Intransparenz es ihnen ermögliche, ein paar Prozentpunkte Rabatt mehr herauszuholen.

Der Mann war dann übrigens nicht mehr allzulange in dem Job. Aber jede Wahrheit braucht eben einen mutigen, der sie ausspricht.

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Und nochn Zitat:
"Die totale Transparenz macht uns selbst zur Maschine. Der Computer ist deshalb so idiotisch, weil er nichts verheimlichen und verbergen kann. Nicht einmal das Passwort schützt ihn vor seiner prinzipiellen Dummheit."

Der Philosoph Byung-Chul Han im "brand eins"-Interview.

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Hatten wir nicht im Zimmerchen nebenan über „Schweinesysteme“ geredet? „Die Forderung nach mehr Transparenz klingt ja immer gut.“ Und das Tarnsparenz* nicht das Problem ist wird ja nicht nur in brand eins beschrieben. Ich habe letztens ein Medikament bekommen, die Liste der Nebenwirkungen hat mich nicht gesünder gemacht. Ich schaue mir die Zutatenliste von z. B. einem Mittel zu Körperpflege an. Da steht drin was drin ist, aber nicht was ich wissen will, nämlich ob es mir schadet oder nicht.

Vielleicht geht es ja nur mir als Schwarzseher so, aber wir scheinen die am besten informierte Gesellschaft aller Zeiten zu sein, ohne an den Vorteilen, die frühere Generationen daran geknüpft haben, partizipieren zu können.

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* Ich wollte den Schreibfehler gerade korrigieren, aber er gefällt mir so wie er ist …

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Hihi,
musste auch grad schmunzeln bei dem Vertipper. Also, ob frühere Generationen aus den zu ihrer Zeit verfügbaren Informationen mehr gemacht haben - oder aus dem was wir heute so alles zu wissen glauben bessere Schlussfolgerungen gezogen hätten, ist schwer zu sagen.

Speziell in der Medizin/Pharmazeutik galt doch schon immer "Versuch macht kluch". Und ja, man kann durchaus den Verdacht haben, dass viele Informationen, die uns heute aufgetischt werden, ablenken sollen von den wichtigeren Fragen. Was drin ist in einem Pflegemittel, kann vielleicht auch ein mittelbegabter Laborant analysieren und in eine Liste tippen. Um herauszufinden, obs Dir schadet oder nicht, wären hingegen umfangreichere Studien und Tests notwendig, nach denen man vielleicht auch nicht so viel schlauer wäre, aber Zeit und Geld geopfert hätte.

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„Also, ob frühere Generationen aus den zu ihrer Zeit verfügbaren Informationen mehr gemacht haben - oder aus dem was wir heute so alles zu wissen glauben bessere Schlussfolgerungen gezogen hätten, ist schwer zu sagen. “

Was ich meinte war etwas anderes. In den 70ern überrollte mich das Mantra der 68er, man müsse soviel wie möglich über eine Sache wissen, um sie besser beurteilen zu können. Damals hieß es, uns würden Informationen vorenthalten.

Heute weiß ich, dass Informationen immer eine Farbe haben. Transparente Informationen sind extrem selten …

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@der_papa:
Wenn man alle Farben des Lichtspektrums richtig mischt, ergibt sich Weiß. Also im Idealfall.

Die vorenthaltenen Informationen sind ja nur ein teil des Problems. Hinzu kommt, dass wir Informationen, die im Widerspruch zu unserem Weltbild stehen, schlechter erfassen und verarbeiten können als solche, die unsere bestehenden Grundannahmen und Glaubenssätze bestätigen.

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Wenn man hingegen die Druckfarben Cyan, Magenta und Gelb mischt, kommt Braun raus. Ein ekeliges Braun, das massiv an das erinnert, was der Hund hinten fallen lässt. Die Drucker treten dem entgegen, in dem sie Schwarz zufügen. Soweit die Farbenlehre.

Gefärbte Informationen miteinander gemischt verhalten sich eher wie Druckfarben. Licht ist da nirgends zu finden …

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Transparenz bedeutet ja nicht seinem gegenüber alle nur erdenklichen Informationen an den Kopf zu werfen oder wichtige Informationen tief im Kleingedruckten zu vergraben und dann sagen man sei ja seiner Informationspflicht nachgekommen.
Transparenz bedeutet doch so viel wie Durchschaubarkeit. Von daher ist der politische Ruf nach mehr Transparentz oft nur der Wunsch nach mehr Einfachheit. Wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen, weil die Politiker selber schon nicht mehr durchblicken.
Wobei die Politiker da mal vielleicht beim Steuersystem und bei den Gesetzen anfangen sollten. Beides ist mehr als nur intransparent.

Aber Intransparenz kann ja auch lustig sein http://www.youtube.com/watch?v=-4dUNd006HI

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Der Einwand ist sicher richtig,
und ich habe die Aussage in dem Interview ja auch nur sehr vereinfacht wiedergegeben, was der Sache nicht ganz gerecht wird. Der Forderung nach Komplexitätsreduktion schließt sich auch Lord Eatwell an. Bleibt die Frage, wo genau man da ansetzen könnte, denn die Über-Komplexität steckt ja nicht hauptsächlich im Kleingedruckten der Beipackzettel, sondern schon in den Produkten. Die sind für den Außenstehenden schon schwer bis fast gar nicht zu verstehen. Und alles hängt irgendwie mit allem zusammen, was die kaskadierten Auswirkungen von einzelnen geplatzten Anleihen, Schuldverschreibungen oder anderen Finanzmarkt-Derivaten so potenziell fatal macht. Diese potenziellen Dominostein-Kettenreaktionen sind überwiegend systemisches Risiko, dem man auch mit vereinfachten und durchchaubareren Einzelprodukten nicht wirksam beikäme. Ein Unternehmen versucht zum Beispiel, ein Überseegeschäft gegen Währungsschwankungen zu seinen Ungunsten abzusichern, also zu hedgen, und daran ist ist auch nichts Unmoralisches, dieser Hedgefonds ist ein Finanzmarktprodukt, in dem andere Anleger ihre Interessen drin haben oder sozusagen Wetten auf das Nicht-Eintreffen von Ausfallrisiken oder was auch immer abgeschlossen haben und, und, und. An allem hängt also bei Licht betrachtet ein Riesen-Rattenschwanz an Weiterem dran, und keiner weiß, wo man effektiv ansetzen könnte, den Welthandel wieder auf das Basislevel von simplen Tauchgeschäften runterzuregeln. Der Wasserkopf an Meta-Transaktionen des Finanzmarkts ist heute 80x mehr wert als der Welthandel mit realen Gütern und Dientleistungen. Wo auch immer man versucht, der Hydra einen Kopf abzuschlagen, es ist damit zu rechnen, dass neue nachwachsen.

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Vorschläge zur Entflechtung gab es ja bereits einige. So zum Beispiel das Verbot der Wettgeschäfte an der Börse. Es hat ja auch nichts mehr mit Handel zu tun wenn Spekulanten darauf hoffen das ein Kurs hoch oder runter geht.
Aber gerade beim Spekulieren sind natürlich sehr hohe Gewinne drin, was den Widerstand gegen die Abschaffung solcher Wettgeschäfte proportional steigen lies.

Sicherlich ist es bereits ein Problem das eine gewisse Fachtermini verwendet wird. Der Börsenmakler wird mit dem Begriff Hedgefonds genauso umgehen wie unser einer mit einem fröhlichen "Guten Morgen". Allerdings muss unser einer es ausbaden wenn die Wetten schief laufen und versteht es nicht was da schief gelaufen ist weil die Fachbegriffe bereits die erste große Hürde darstellen.

Transparenz beginnt also vielleicht auch schon damit, nur Verantwortung für das zu übernehmen (übernehmen zu müssen) was man auch versteht.
Wenn ich ein Aspirin nehme, weiß ich in etwa was da drin ist. Ich weiß ob ich Aspirin vertrage oder nicht und kann es demnach auch selbstverantwortlich einnehmen.
Bekomme ich aber ein komplexe Antikrebsmittel verschrieben, hier hört mein Verständnis vielleicht schon bei den möglichen Nebenwirkungen auf. In diesen Fall muss jemand anderes, in der Regel der Arzt, die Verantwortung übernehmen. Auch wenn es letzten Endes meine ganz eigene Entscheidung sein wird ob ich das Medikament nehme oder nicht, hat alleine der Arzt die Verantwortung mich über die Risiken aufzuklären. Und letzten Endes liegt es auch in der Hand des Arztes abzuwägen ob die Risiken sich lohnen.

Transparenz hat also auch ein gutes Stück weit mit Verantwortung zu tun. Intransparenz rührt oft ja auch daher, dass man etwas bewusst verschleiern will um nicht die Verantwortung übernehmen zu müssen.
Mehr Transparenz erreicht man demnach im ersten Schritt dadurch das man Dinge klarer formuliert. Und in den Bereichen wo es nicht oder nur schwer möglich ist, denjenigen die volle Verantwortung aufbürdet.
Im Fall der Wirtschaftskrise wurde die Verantwortung leider von den Banken auf die Bürger bzw. den Staat transferiert. Es ist für den Bürger völlig intransparent warum er jetzt die Verantwortung und die Folgen der Wirtschaftskrise tragen muss obwohl er noch nicht einmal wirklich verstanden hat worum es ging.

Mehr Transparenz im Privatleben könnte demnach so aussehen, dass man sich nicht mehr auf das Kleingedruckte berufen kann. Es reicht also nicht einfach etwas kleingedruckt hellgrau auf Weiß zu übergeben und anschließend zu sagen man hätte es ja schriftlich. IN der Versicherungsbranche hat sich in diesen Punkt einiges in den letzten Jahren getan.
Allerdings hat dieses mehr an Transparenz auch Nachteile. Früher hatte ich einen Versicherungsvertrag unterschrieben und gut. Heute sitze ich für 2 Versicherungen 4 Stunden beim Makler und lasse mir anschließend einen 7cm dicken Stapel Papier und zwei CDs mit Geschäftsbedingungen überreichen. Klar, ich will eine Versicherung für 300 Euro im Jahr die alles bezahlt wenn ich mit dem Auto vor einen Baum fahre. Die Versicherung aber will bereits im Vorfeld geklärt haben was ist wenn es kein Baum sondern ein Laternenpfahl ist. Und sie will wissen welche Strafe sie mir aufbrummen darf wenn ich nicht rechtzeitig bezahle. Usw. usf.

Transparenz ist und bleibt somit ein mühsames Geschäft an dem alle Beteiligten hart arbeiten müssen.

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Tja, müssen.
Oder eben nicht müssen, das ist die Frage. Oder das Problem, wenn man so will.

Ich wäre gewiss der letzte, der den status quo schönredet. Aber manchmal frage ich mich schon, ob es nicht irgendwelchen thermodynamischen Gesetzmäßigkeiten folgt, dass Komplexitätszuwachs so gut wie gar nicht, allenfalls begrenzt und nur unter Aufbringung herkulischer Anstrengungen reversibel zu ein scheint. Denken wir in dem Zusammenhang auch an das Steuerrecht und die strukturelle Unmöglichkeit, eine grundlegend vereinfachende Reform zu Wege zu bringen, so dass alle relevanten Angaben auf einen Bierdeckel passen.

Ich sehe auch nicht, dass sich auf dem Versicherungssektor (außer vollmundigen Lippenbekenntnissen aus dem Hause Ergo) viel getan hätte in den letzten Jahren. Und wer von den staatlichen Interventionen in Sachen Finanzkrise profitiert hat und wer die Zeche zahlt, ist im großen und ganzen auch kein Geheimnis. Nur darf man das nicht allzu offen ansprechen, ohne in Themenbereiche zu geraten, bei denen sensiblere Naturen schon "struktureller Antisemitimus" rufen, selbst wenn man nur mal Verwunderung über die derzeitigen Dispo-Zinssätze äußert.

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