Freitag, 8. September 2006
Augustober
Das Jahr über stört es mich eigentlich nicht, wenn Green Day im Radio zum aberzillionsten Mal "When September ends" zum Besten geben. Nur im Moment nimmt es ein wenig überhand. Und dann kommt noch verschärfend hinzu, dass wir ja tatsächlich September haben. Manchem wird das erst bewusst, wenn im Fernsehen wieder andauernd die rauchenden Doppeltürme in Manhattan einsacken. Aber ich merke es manchmal schon im Spätaugust, dass nun September ist - oder zumindest das, was für mich September ausmacht.

Zunächst ist da nicht mehr als eine subtile Veränderung des Lichts. Dass es morgens oft dunstig ist, bevor die Sonne sich wieder richtig Bahn bricht. Dazu die ersten Spinnfäden, die dem Altweibersommer den Namen gaben. Kleine meteorologisch bedingte Phänomene, die aber in mir drin emotionale Verschiebungen von tektonischem Ausmaß auslösen können. Schon in der Pubertät war es so, dass diese Zeit des schleichenden Sommerabschieds in mir melancholische Schübe auslöste, die sich gewaschen hatten. Es war zwar längst nicht jeder September in meinem Leben zwingenderweise ein emotional-stimmungsmäßiges Desaster. Aber die düstersten Momente in meinem Leben kann ich fast ausnahmslos auf September datieren.

Ich hatte oft und hartnäckig - aber erfolglos - versucht zu ergründen, aus welchen Quellen sich diese tiefe Traurigkeit speist. Was denn immer wieder so schlimm daran ist, dass der Sommer endet - während ich im November, wenn alle Welt unter ungemütlicher Witterung leidet und in die Winterdepression fällt, einigermaßen fidel bin? Warum immer diese untypischen saisonalen emotionalen Löcher?

Irgendwann in den späten 90ern, genauer gesagt im September 1998, hatte ich meine Mutter nach der Geburtstagsfeier meines kleinen Bruders nach Hause gefahren. Und obwohl es für sie schon ziemlich spät war, hatten wir uns in ihrer Küche noch festgequatscht. Ein selten entspanntes und ehrliches Gespräch ohne die üblichen Rollenspielchen, das uns bis weit über Mitternacht hinaus bei der Stange hielt. Und ich weiß nicht mehr genau, wie wir drauf kamen, irgendwann gestand mir meine Mutter, dass sie während sie mit mir schwanger war, eine schwere Krise durchgemacht hatte und auch mehrfach kurz davor gestanden hatte, sich das Leben zu nehmen.

Ich hätte es nicht wirklich fragen müssen. Aber weil ich mit der Information auch erst mal nicht anders umgehen konnte, fragte ich halt nach, ob das vielleicht Ende August/Anfang September gewesen sein könne. Nun war es an ihr, die Kinnlade sacken zu lassen und mich dann zu fragen, woher ich das denn wisse? Tja, schwer war das nicht mehr zu erraten, nachdem ich diesen Marker in meinem persönlichen Kalender unübersehbar mit mir herumtrage.

Um eine lange Geschichte etwas abzukürzen: Ich habe an dieser Information lange zu knabbern gehabt, mehr als ein Jahr lang jeden Kontakt zu meiner Mutter vermieden und irgendwie versucht, mich wieder einigermaßen zu sortieren und diese "Mitgift" als mein persönliches Erbe annehmen zu können. Das ganze gipfelte in einer schweren Krise, die (na klar, auch das noch) so um den 9.9.99 herum ihren Kulminationspunkt hatte. Und wenn meine Frau (damals meine Kollegin) nicht an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gegangen wäre mit mir, säße ich heute wohl nicht an dieser Tastatur, um diese Geschichte aufzuschreiben. Ihr widme ich diese Geschichte - und wenn ich mir damit auch noch Stöckchen erspare mit der Frage, warum "Die dunkle Seite" heißt wie sie heißt, dann umso besser.

Mich wird jedenfalls niemand wecken müssen, wenn der September endet. Ich werde - so Gott will - wach sein. Und bereit, im Oktober noch mal an einem anderen Ort neu anzufangen.

... link (64 Kommentare)   ... comment