Freitag, 8. November 2013
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Also nur mal angenommen, das Bundespräsidialamt hätte bei mir angefragt, wo unser Staatsoberhaupt denn mal die "wirkliche Wirklichkeit" kennenlernen könne, dann wäre die Neckarstadt-West in Mannheim exakt mein Vorschlag Nummer eins gewesen. In dem Carré der gestern von Gauck besuchten Neckarschule habe ich lange gewohnt, meine frühere Lebensgefährtin hat an dieser Schule im Rahmen ihres Pädagogikstudiums ihre allerersten Lehrerfahrungen gesammelt. Schon damals bildeten Kinder mit deutscher Staatsbürgerschaft eine Minderheit, und der Trend hat sich - nicht zuletzt durch den Zuzug aus Südosteuropa - in den letzten Jahren noch weiter verstärkt. Ich bin seit meinem Wegzug vor fast zehn Jahren nicht mehr so direkt am Puls des Viertels, aber ich kriege noch genug mit, um zu wissen, welche Probleme das Zusammenleben von Bewohnern aus so vielen unterschiedlichen Nationen und Weltgegenden mit sich bringt. Auf der anderen Seite muss man es schon auch als Riesenerfolg anerkennen, dass der Totalabsturz der Neckarstadt-West bislang verhindert werden konnte und dort keine bürgerkriegsähnlichen Zustände herrschen. Jenseits des gemauerten Torbogens in dem kleinen Park zwischen der Draisstraße und der Bürgermeister-Fuchs-Straße war es durch die unmittelbare Nähe des Rotlichtbezirks schon immer sehr, nunja, speziell. Und dass der vordere Teil zwischen Messplatz und Neumarkt, wo ich einst wohnte, dann doch nicht so hip geworden ist, wie es sich die Makler und Vermieter zu Beginn der Neunziger erhofft hatten, ist in meinen Augen nicht unbedingt eine Vollkatastrophe.

Aber dauerhaft abgewendet ist die Gefahr des völligen Verfalls des Viertels mit seinen vielen denkmalgeschützten Altbauten nicht. Zumindest scheint die Stadt erkannt zu haben, dass sie es sich (trotz ihrer leeren Kassen) nicht leisten kann, den Stadtteil mehr oder weniger aufzugeben. Ich glaube tatsächlich, wenn Multikulti trotz aller Probleme hier einigermaßen funktioniert, dann sollte es auch anderswo möglich sein. Und in diesem Kontext halte ich die Stippvisite des Staatsoberhaupts (auch wenn das letztlich nicht mehr als eine symbolische Geste gewesen sein mag) dann doch für ein richtiges und wichtiges Signal.

In den Kommentaren zum FAZ-Artikel melden sich jetzt freilich viele Besserwisser zu Wort, die sagen, der BuPrä hätte sich in Mannheim ja wohl das totale Wohlfühl-Programm gegönnt. Wäre es ihm um die eigentliche Wirklichkeit gegangen, hätte er nach Duisburg fahren müssen. Liebe Duisburger, nehmt es mir nicht übel, aber Wanheimerort, Hochfeld und Marxloh sind selbst für einen langjährigen Bewohner von MA-Neckarstadt-West noch ziemlich schwer verdauliche Brocken. In manche Ecken traut sich ja nicht mal mehr Schimanski-Darsteller Götz George hin: Neben dem aufgehübschten Duisburg gibt es in der Stadt inzwischen Orte, die sind so heruntergekommen, da willst du wirklich nicht mit dem Filmteam anrücken. Traurig verwahrloste Gegenden, wo kein Mensch zu sehen ist und alle Häuser vernagelt sind. Es wäre blanker Voyeurismus, sich daran zu weiden. Dann kann man da auch nicht unseren Staatschef hinschicken, das ist doch klar. So einen Rest Hoffnung sollte der besuchte Ort ja wohl noch ausstrahlen.

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