Mittwoch, 22. September 2010
The best is always yet to come
Ah, die Kavallerie des Kontrollverlustes reitet wieder: Jens Best, einer der, ähm, Vordenker der Daseinsdigitalität hält - man ahnt es bereits - ein erneutes Plädoyer für das, was er so digitale Öffentlichkeit nennt. Da ist von open data als Pflicht der Politik die Rede, datenbasierte Reduktion dieser erweiterten sozialen Komplexität dürfe nicht verhindert werden. Da konnte ich zwar nicht mehr so recht folgen, aber die größte Sorge des Verfassers scheint zu sein, dass übertriebener Datenschutz den Spaßfaktor der digitalen Spielwiese dramatisch einschränken könnte. Nicht, dass aktuell irgendwo in der Politik eine Verschärfung von Datenschutz-Regelungen ernsthaft diskutiert würde, aber das muss einen bekennenden Aktivisten wie Jens Best ja nicht davon abhalten, das ganze (und von ihm offenkundig nur lückenhaft verstandene) Konzept von Datenschutz mal eben pauschal zu diskreditieren: Der in Teilen aus der Erfahrung historischer Ungerechtigkeit geschaffene Datenschutz degradiert sein Objekt auf die Rolle des Opfers. Welch ein einschränkendes Verständnis von Bürgerlichkeit wird damit transportiert?

Aha. Dieser kruden Logik folgend degradiert der Mutterschutz die Frauen dann auch zu blöden Gebärmaschinen, die es selber nicht gebacken kriegen, ihr Leben neu zu organisieren. Und Verbraucherschutz macht uns alle zu verblendeten Idioten, die ohne helfende Handreichung nicht zu einer vernünftigen Kaufentscheidung fähig sind? Da darf man ja auch mal fragen, was hier denn bitteschön für ein Menschenbild dahintersteht.

Aber es kommt noch besser: Der mögliche Missbrauch von Daten ist also ein Symptom tiefer liegenden gesellschaftlichen Fehlern. Diese werden aber lediglich kaschiert, wenn Datenschützer die neue digitale Ebene dieser Fehler abschalten wollen. Was für eine imposante Nebelkerze! Wenn jetzt-nur-mal-so-als-Beispiel Menschen Menschen umbringen, sowas kommt ja vor, dann ist das natürlich auch ein Symptom tieferliegender gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. Diese Tatsache enthebt das Gemeinwesen aber nach gängiger Auffassung nicht einer gewissen Notwendigkeit, strafrechtliche Sanktionen für diesen Fall der Fälle vorzusehen und entsprechend auch umzusetzen. Und solange wir nicht in der besten aller denkbaren Welten leben, scheint es mir doch ziemlich naiv, davon auszugehen, wenn wir uns nur alle genug entpixeln und nackicht machen, resultiere daraus automatisch eine freiere und tollere Gesellschaftsform, in der die Löwen bei den Lämmern weiden und das Kleinkind in der Natterngrube spielt.

Vollends bizarr wird es, wenn Nerdreligion zum Pflichtfach des digitalen Bürgertums gemacht wird: Das "Verstehenkönnen" von Informationsarchitektur und das grundlegende Handwerk der Datenverknüpfung durch Programmierung, das einfache Erstellen und Lesen von Geo-Daten-MashUps sind notwendige Fähigkeiten für den digitalen Bürger. Sorry, aber das klingt in meinen Ohren nun wirklich nach Kuhdung im Quadrat. Um meine Angelegenheiten als analoger Bürger zu regeln muss ich doch auch nicht Kameralistik oder Verwaltungswissenschaft studiert haben. Und meine digitale Zweitexistenz ist bislang auch ganz gut klargekommen ohne einfaches (oder gar kompliziertes) Erstellen von Geo-Daten-Mashups. Womit ich diese Fähigkeiten keineswegs schmähen möchte. Auch halte ich es mitnichten für sinn- oder aussichtslos, einer breiteren Bevölkerung bestimmte Grundlagen und Fertigkeiten in Sachen Datenorganisation näherzubringen. Aber das kann doch kein konstituierendes Merkmal einer digitalen Öffentlichkeit sein. Wo bleibt denn da das Positive, das die Skeptiker und Verweigerer aus ihrer analogen Abwehrhaltung holen könnte?

... link (87 Kommentare)   ... comment